Wehrpflicht ja, aber nicht für diesen Staat
Der parteiinterne Streit über die Wehrpflicht zeigt, wie zerrissen die AfD zwischen Autoritarismus und Staatsverweigerung ist
Es war eines der großen Projekte von Rüdiger Lucassen. Monatelange hatte der Verteidigungspolitiker der AfD mit seinem Arbeitskreis an einem umfassenden Antrag zur Wiedereinführung der Wehrpflicht gearbeitet. Die Fraktion wollte damit eine ihrer ältesten Kernforderungen in den Bundestag einbringen. Seit 2016 ist die AfD die einzige Partei im Bundestag, die eine allgemeine Wehrpflicht fordert. Die Selbstdarstellung als „Soldatenpartei“ gehört zum Markenkern: patriotisch, verteidigungsstark, bereit zur Landesverteidigung. Noch im September schrieb Lucassen bei Facebook: „Wir sind die Partei der Soldaten. Soldaten sind rechts.“1
Doch dann kam alles anders. Kurz bevor die Bundesregierung ihren eigenen Antrag zur Reaktivierung der Wehrpflicht einbringen wollte, entschied die AfD überraschend, keinen Gegenantrag zu stellen. Eine Minderheit von Abgeordneten hatte die Fraktion dazu gebracht, von ihrer jahrelangen Position abzurücken.
Was ist da passiert?
Nicht für diesen Staat
Die Antwort offenbart einen Widerspruch, der tief ins Selbstverständnis der AfD hineinreicht. Einerseits will die Partei einen autoritären Staat mit wehrpflichtigen Bürgern, die bereit sind, für ihr Vaterland zu kämpfen. Andererseits lehnt ein relevanter Teil der Partei den real existierenden Staat ab, für den junge Männer dienen sollen.
Parteichef Tino Chrupalla erklärte bereits im ARD-Sommerinterview 2024, er sei „aktuell gegen die Einführung der Wehrpflicht.“2 Auch andere prominente Funktionäre äußerten sich ähnlich. „Was wir nicht wollen, ist das Rekrutieren jetzt für einen Krieg gegen Russland“, erklärte Beatrix von Storch.
Alice Weidel kündigte bei einer Pressekonferenz im Oktober an, sie werde niemals unterstützen, dass die aktuelle Bundesregierung „die Kontrolle über unsere Soldaten“3 habe. Einen Antrag für die Wehrpflicht wolle sie erst einbringen, wenn die AfD selbst an der Macht sei.
Björn Höcke ging in einem Interview mit der ARD noch weiter und sagte mit Blick auf die Bundesrepublik: „Das ist ein Staat, dem ich nicht mehr dienen würde.“ Er wolle nicht, „dass die wenigen jungen Männer, die wir haben, für fremde Kriege, für Geld und Machtinteressen fallen.“4
Die Stoßrichtung ist fast immer gleich: Wehrpflicht ja, aber nicht für diese Regierung, nicht für diesen Staat. Das kommt bei einem Teil der AfD-Wählerschaft offenbar gut an. Rund ein Drittel der AfD-Wähler lehnt laut einer Umfrage vom Juli 2025 eine Wehrpflicht ab. Das sind genauso viele wie bei den Grünen und doppelt so viele wie bei der Union.5
Ein guter Teil dieser Ablehnung dürfte aus dem Osten kommen, wo Höcke die AfD immer wieder als Friedenspartei zu positionieren versucht. Die ihm nahestehende Gruppe von Bundestagsabgeordneten verhinderte den Bundestagsantrag auch deshalb, weil sie befürchteten, eine zu deutliche Positionierung für die Wehrpflicht könne Wähler verschrecken.
Die Soldaten wollen sie selbst losschicken
Das Dilemma wird auch im Vorfeld der AfD diskutiert. Götz Kubitschek etwa erklärte in seinem Podcast, man könne heute niemandem raten, diesem Staat zu dienen. In einem Text auf Kubitscheks Blog formuliert auch Bruno Wolters – offensichtlich mit KI-Unterstützung –, warum man die Wehrpflicht zurzeit ablehnt: Zurzeit sei sie nur „ein stilles Mahnmal“ (gibt es auch laute?) „für den Verlust jenes Ernstes, mit dem einst über Staat und Nation gesprochen wurde.“6
Ein Dilemma ist es trotzdem: Denn würde man sich als Rechter einem potenziellen Wehrdienst verweigern, wäre das ja eine individuelle, moralische Entscheidung gegen den Staat – eigentlich nicht das, was ein Etatist wie Kubitschek befürwortet. Darum warnte Kubitschek nochmal vor der liberalen Idee („der großen Ich-Nummer“), nach der das Individuum Vorrang vor der Gemeinschaft, dem Kollektiv und dem Staat habe.7
Kubitscheks Formulierung bringt den Widerspruch auf den Punkt. Die Neue Rechte will einen starken, autoritären Staat, in dem der Einzelne sich dem Kollektiv unterordnet. Zugleich verweigert sie diesem Staat die Gefolgschaft, solange er nicht nach ihren Vorstellungen geformt ist. Es ist ein strukturelles Problem, auf das ihre Vordenker auch schon während der Corona-Pandemie gestoßen sind: Einerseits wünscht man sich einen starken Staat, aber was den aktuellen Staat angeht, will man lieber einen schwachen.
In diesem Fall haben sich die Ost-Verbände durchgesetzt, doch ihre Position in der AfD ist trotz der relativen Stärke in den ostdeutschen Bundesländern begrenzt. Weniger als ein Drittel der AfD-Bundestagsabgeordneten kommt aus dem Osten, Höcke gilt längst nicht mehr als unangefochtener Tonangeber.
Der gescheiterte Antrag ist deshalb kein Beleg dafür, dass die „Friedenspartei“-Linie mehrheitsfähig wäre. Eher scheinen sich auch die Abgeordneten aus dem Westen wenig von einer zu klaren Positionierung zum jetzigen Zeitpunkt zu versprechen. So zitiert das ZDF einen hochrangigen Parteifunktionär mit den Worten, die Koalition zerlege sich doch sowieso gerade über die Wehrpflicht. „Da müssen wir ja gar nichts tun. Da gucken wir lieber zu.“8
Sollte die AfD aber irgendwann selbst an der Macht sein, gibt es keine Zweifel: Dann will sie junge Männer einziehen, damit sie lernen, für ihr Vaterland zu kämpfen und notfalls auch zu sterben. Wenn sich also Chrupalla noch einmal wie im letzten Wahlkampf im Sachsen auf eine Bühne stellt, seine Rolle als Familienvater betont und in die Menge ruft: „Meine Söhne bekommt ihr nicht!“, sollte man dem nicht zu viel Vertrauen schenken.
Dass die AfD gar keine Söhne mehr in den Krieg schicken will, heißt das nicht. Nur wollen sie selbst es sein, die entschieden, wann und wofür sie sie losschicken.
Rüdiger Lucassen in einem Facebook-Post vom 5. September 2025
Tino Chrupalla im ARD-Sommerinterview am 07.07.2024
Frederik Schindler: „Jetzt räumt die AfD eine Grundsatzposition ab“, Welt vom 15.10.2025
Das gesamte Interview hat Björn Höcke am 29.09.2025 auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht
Ipsos: Umfrage zur Wehrpflicht: Zwei Drittel der Deutschen für Wiedereinführung, 11.07.2025
Bruno Wolters: Wehrpflicht ohne Staatsidee, Sezession.de, 27.10.2025
Kanal Schnellroda: „‘Schnellroda diskutiert’ über den Merkel-Sommer, die Wehrpflicht und Frau Liebich”, 03.09.2025
Nicole Diekmann: „Antrag der Partei ist tot: Wie die AfD beim Thema Wehrpflicht laviert“, ZDF Heute am 14.10.2025




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