Alle Strategien gegen die AfD sind gescheitert
Eine kritische Bilanz der bisherigen Versuche, die Rechtsaußen-Partei einzuhegen
Kaum eine Kraft hat in der Geschichte der Bundesrepublik über so lange Zeit so viele Abwehrreflexe, so viel Ratlosigkeit, so viele Projektionen ausgelöst wie die AfD. Zugleich ist bisher keine Partei trotz aller Gegenreflexe derart stark geworden. Zwölf Jahre nach ihrer Gründung steht die AfD in bundesweiten Umfragen bei rund einem Viertel der Stimmen, teils sogar vor der Union. Wir haben es also mit einem Paradox zu tun: Nie wurde so viel über Gegenmittel gegen eine Partei nachgedacht, nie waren sie so wirkungslos.
Seit 2013 ist ein ganzes Arsenal an Methoden im Umgang mit der AfD entstanden. Die einen bauen Brandmauern, andere wollen sie einreißen. Manche wollen die Partei durch Einbindung entzaubern, andere sie aus Talkshows, Ausschüssen und Kulturinstitutionen ausschließen. Wieder andere versuchen die Partei inhaltlich zu stellen, mit Faktenchecks, Recherchen, Skandalisierungen. Eine Zeitlang galt die Enthüllung als Königsweg: Jede Rede, jedes Interview, fast jeder Tweet wurde auf den nächsten Tabubruch hin geprüft. Als man merkte, dass man damit Teil des Spiels des Gegners wurde, folgte die Gegenbewegung: Fortan sollte die Partei ignoriert und ihr keine Plattform geboten werden. Dann setzte man auf Massendemonstrationen und zivilgesellschaftliche Allianzen von CDU bis Antifa.
Die Liste ließe sich fortschreiben. Die AfD hat dennoch alle Empörungswellen, Isolierungsversuche und Kommunikationsmoden überstanden. Vielleicht ist es also an der Zeit, die Perspektive zu wechseln: weg von den einzelnen Taktiken, hin zu der Frage, welche Strategien ihnen eigentlich zugrunde liegen.
Strategie und Taktik
Der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz gilt nicht als Linker, doch in seinem Werk Vom Kriege hat er eine berühmte Einteilung vorgenommen, die lange sowohl Linke wie Rechte aufgegriffen haben. Die Taktik definierte er als „die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht“, die Strategie als „die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges“.1
Übertragen auf das Feld der Politik heißt das: Strategien legen die Richtung fest, auf die die Taktiken ausgerichtet sind. Strategie ist das Fernziel, Taktiken setzt man kurzfristiger, reaktiver, situativer ein, um es zu erreichen. Politik braucht beides: Wer das Ziel kennt, aber nicht den Weg, kommt nie an. Wer viele Wege kennt, aber kein Ziel, läuft im Kreis.
Was also waren bisher die Strategien im Umgang mit der AfD? Welche Taktiken gab es? Zeit für eine Bestandsaufnahme.
1. Strategie der Ausgrenzung
Die älteste, moralisch klarste und historisch am besten erprobte Linie lautet: ausgrenzen, wo es geht, um die radikale Rechte kleinzuhalten oder zu marginalisieren. Medial heißt das, AfD-Politiker nicht einzuladen. Parlamentarisch, nicht mit ihnen zusammenzuarbeiten. Im Alltag, Mitglieder und Sympathisanten auszuschließen. Diese Taktiken erschweren zwar die politische Integration der AfD und ihres Umfelds, bergen aber ein wachsendes Risiko.
Die Strategie führt dazu, dass die AfD, wenn sie sich als Opfer der etablierten Parteien und als einzige tatsächliche Alternative inszeniert, damit nicht falsch liegt. Sie fordert jeden Bürger zur endgültigen Entscheidung auf: für oder gegen die AfD. Paradoxerweise verstärkt Ausgrenzung so genau das, was sie verhindern will: die Selbstinszenierung der AfD als verfolgte, aber unbeugsame Opposition. Und wenn die Partei immer stärker wird, steigen auch die Anreize, sich mit ihren Positionen auseinanderzusetzen, sich in ihr zu engagieren.
Die Strategie bringt die AfD also in eine besondere Lage, die sie von allen anderen Parteien unterscheidet. Soziologisch gesprochen sind die „Entry-Costs“ zum Engagement höher, entsprechend höher ist dafür aber auch der Lock-In-Effekt, wenn man den Eintritt vollzogen hat. Anders gesagt: Wer einmal Freundschaften riskiert, seinem Ansehen geschadet und sich Lebenswege verbaut hat, weil er sich zur AfD bekannt hat, der wird sich zweimal überlegen, ihr wieder den Rücken zu kehren. Damit kann die Ausgrenzungsstrategie mittelfristig genau das hervorbringen, das sie verhindern wollte: eine rechtsradikale Partei mit hoch engagierten Mitgliedern, die sich in fundamentaler Opposition zum System wähnen.
2. Strategie der Konfrontation
Dem Ziel nach ähnelt sie der Strategie der Ausgrenzung, setzt aber am anderen Ende des Problems an. Auch hier soll die AfD bekämpft werden, allerdings nicht durchs Ignorieren, sondern durch Widerspruch. Die Aufgabe von Journalisten wie Wissenschaftlerinnen, von Bewegungen wie Parteien sei es demnach, die AfD argumentativ zu stellen. Dazu gehört taktisch die inhaltliche Diskussion auf Podien und im Parlament, aber auch mediale Skandalisierungen, indem man etwa die rechtsradikale Vergangenheit von AfD-Funktionären oder kompromittierende Aussagen in halbprivaten Chats aufdeckt. Auch Faktenchecks und kritische Analysen des Kommunikationsverhaltens der Rechten zählen ebenfalls zu dieser Strategie.
Diese Strategie wird seit Jahren von engagierten Redaktionen, Aktivisten und Forscherinnen angewandt. Doch auch wenn sie theoretisch ein breites Publikum adressiert, erreichen die Aufdeckungen und Faktenchecks meist nur jene, die ohnehin skeptisch sind, was die AfD angeht. Hinzu kommt der Effekt der Abstumpfung: Nach der dritten Enthüllung eines AfD-Kaders als Rechtsradikaler folgt eher ein Achselzucken als Empörung. Die Skandalisierungsmaschine läuft heiß, bis sie leerläuft.
Einmal allerdings hat es nachweislich geklappt, die AfD durch diese Strategie zu schwächen. Im Herbst 2018 stand die AfD in bundesweiten Umfragen bei knapp 20 Prozent, damals ein Umfragerekord. Nachdem AfD-Spitzenpolitiker gemeinsam mit Neonazis bei einer Demonstration in Chemnitz marschiert waren, viele AfD-Politiker ihre Rhetorik gegenüber Migranten deutlich verschärft hatten und die Bundestagsfraktion der AfD ihre Kampagnen immer offensichtlicher mit rechtsradikalen Medien abstimmte, sanken die Umfragewerte binnen Wochen von 18 auf 12 Prozent. Doch der Effekt schwand. Heute macht die AfD keinen Hehl mehr aus ihrer rechtsradikalen Orientierung. Für die gut 25 Prozent, die sie wählen würden, ist das kein Hinderungsgrund mehr, sondern oft Teil der Anziehungskraft.
3. Strategie der Repression
Eine weitere Linie im Umgang mit der AfD setzt nicht auf öffentliche Auseinandersetzung oder diskursive Abgrenzung, sondern auf den Staat. Die Strategie der Repression zielt darauf ab, die AfD mit juristischen Mitteln einzudämmen.
Zu ihren Taktiken zählen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz auf Landes- und Bundesebene, die Zurückweisung von AfD-Kandidaten bei Wahlen, wie zuletzt im Fall des Landtagsabgeordneten Joachim Paul in Ludwigshafen, sowie verschärfte Bestimmungen für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst. Die schärfste Variante dieser Strategie ist das Parteiverbot.
Repression dauert zwar, aufgrund rechtlicher Hürden, recht lange. Doch wenn sie durch alle Instanzen hinweg erfolgreich ist, kann die AfD kaum etwas gegen sie ausrichten. Käme es tatsächlich zu einem Verbot, hieße das, dass die Polizei an einem Morgen alle AfD-Büros besetzt, Gelder der Partei einzieht, vermutlich auch die höchsten Funktionäre einsperrt. Dagegen wird sich keine noch so gut organisierte Partei zur Wehr setzen können.
Doch selbst wenn ein Verbotsverfahren eingeleitet und erfolgreich wäre – was derzeit weder sicher noch wahrscheinlich scheint –, bliebe die gesellschaftliche Nachfrage nach einer Partei rechts der CDU/CSU bestehen. Das politische Angebot wäre verboten, das Bedürfnis dahinter aber ungebrochen. Mittel- bis langfristig fände sich erneut eine Partei, die diese Nachfrage befriedigt. Befürworter halten dennoch auch eine solche kurzfristige Entlastung für wertvoll. Der frühere CDU-Abgeordnete Marco Wanderwitz nannte es in einem Gespräch mit uns einmal eine „Atempause für die Demokratie“.2
Doch es steht zu befürchten, dass ein solcher Schritt der Demokratie nicht nur guttun würde. Die Räume des Denk-, Sag- und Machbaren würden sich verengen, wohl nicht nur im rechten Spektrum. Bereits heute zeigt sich bei den Berufsverboten im öffentlichen Dienst, dass keineswegs nur Rechte und Islamisten gemeint sind, sondern gemäß der in deutschen Behörden omnipräsenten Extremismustheorie eben auch Linke.3 Die Demokratie würde zwar behaupten, sich vor ihren Feinden zu schützen – wenn sie aber die Grenzen dessen, was in ihr sag-, denk- und machbar ist, zu weit verengt, verliert diese Herrschaftsform schnell ihre Legitimation. Das gilt nicht nur für das Parteiverbot, sondern für jede Form staatlicher Repression.
4. Strategie der Themenübernahme
Ziel dieser Strategie ist es, die AfD indirekt zu schwächen, indem man ihre Themen übernimmt.
Am deutlichsten zeigt sich das bei der Migration. Insbesondere CDU und CSU haben im vergangenen Bundestagswahlkampf versucht, einwanderungskritische Positionen der AfD weitgehend zu übernehmen. Doch auch in anderen Bereichen versuchen mehrere Parteien, sich oppositionelle Motive einzuverleiben, um die AfD zu neutralisieren. So stimmen Teile von Union und FDP inzwischen in die Fundamentalkritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein. Wenn Kulturstaatsminister Wolfram Weimer etwa von einem „politisch links geneigten“ Rundfunk spricht, der sich durch „Zwangsbeiträge“ finanziere, bedient er sich Positionen und Vokabular von Rechtsaußen.4
Die Bilanz dieser Strategie fällt bislang negativ aus. Die Union hat an Zustimmung verloren, während die AfD weiter zugelegt hat. Oft wird gegen diese Strategie angeführt, das Wahlvolk ziehe sowieso das Original der Kopie vor. Das trifft empirisch häufig zu, aber nicht zwingend. In Österreich etwa konnte Sebastian Kurz die ÖVP durch eine Übernahme rechter Positionen kurzfristig stärken. Nur bleibt von einer konservativen Mitte-Rechts-Partei irgendwann wenig, wenn sie in zu vielen Punkten den Rechten folgt. Und was wäre überhaupt gewonnen, wenn rechte Politik nicht von der AfD, sondern von der Union betrieben wird?
Hinzu kommt ein strukturelles Problem, das der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher bereits 2023 in einem Interview, das ich mit ihm für Panorama geführt habe, benannt hat.5 Die Merz-CDU verfolgte schon damals zwei widersprüchliche Linien: einerseits formal die Brandmauer, andererseits inhaltlich die Annäherung an AfD-Positionen. Friedrich Merz sprach damals von einer „Alternative für Deutschland mit Substanz“. Laut Biebricher eine fatale Mischung, weil sie den Eindruck erweckt, die AfD habe im Grunde Recht, werde aber aus rein taktischen Gründen ausgegrenzt. Zwei Strategien mit gegensätzlichen Zielen, das Resultat ist sichtbar: Die AfD wächst, die Union schrumpft.
5. Strategie der Einbindung
In Deutschland bislang eher hypothetisch, gibt es noch die Strategie der Einbindung. Sie verfolgt zwei unterschiedliche Ziele. Das erste: die AfD durch das Scheitern an der Verantwortung zu entzaubern. Das zweite: sie durch erzwungenen Pragmatismus mäßigen, also ähnlich wie einst die Grünen, dazu bringen, radikalere Positionen zugunsten realpolitischer Sachzwänge aufzugeben.
Taktisch ließe sich die AfD vor allem parlamentarisch einbinden. Sie könnte in Ausschüssen zur Sacharbeit verpflichtet oder dort, wo sie lokale Mehrheiten hält, in konkrete Verantwortung genommen werden. Die Maximalvariante wäre eine Koalition auf Landes- oder gar Bundesebene.
Praktische Erfahrungen damit sind rar. Zwei Orte bieten bislang einen Vorgeschmack: Robert Sesselmann als Landrat im thüringischen Sonneberg und Hannes Loth als Bürgermeister im sachsen-anhaltischen Raguhn-Jeßnitz. Beide mussten zahlreiche Wahlversprechen kassieren, kämpften mit klammen Haushalten und begrenzten Spielräumen. Sesselmanns Bilanz fällt schwach aus, Loths durchwachsen. Doch die Zustimmung zur AfD blieb stabil, teils stieg sie sogar. Entzauberung sieht anders aus.
Auch jenseits Deutschlands spricht wenig für den Erfolg dieser Strategie. Giorgia Meloni regiert in Italien recht erfolgreich, Trump konnte ein zweites Mal ins Weiße Haus einziehen, in Österreich hat die FPÖ nach jeder Regierungsbeteiligung nur kurzzeitig an Zustimmung verloren – um danach umso stärker zurückzukehren. Seit einem Jahr liegt sie dort stabil über der 30-Prozent-Marke. Zumindest in diesen Fällen schien die Entzauberungsstrategie nicht zu funktionieren. Das Problem dieser Strategie liegt auf der Hand: Sie ist riskant. Wer einbindet, öffnet den Zugang zu realer Macht. Wenn man noch Glück im Unglück hat, sieht die Politik dann aus wie im pragmatisch-postfaschistischen Italien, wo rechte Politik unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen gemacht wird. Hat man Pech, findet man sie in den von maskierten Remigrationsagenten bevölkerten USA wieder.
6. Strategie der Selbstzerlegung
Jedes politische Projekt trägt in sich innere Widersprüche, Streitpotenzial und Machtkämpfe. Das Ziel dieser Strategie ist es, diese zu nutzen, die AfD also so an ihren Bruchstellen zu treffen, dass interne Spannungen zutage treten und im besten Fall Spaltungen folgen. Die Taktiken sind relativ direkt: Konfliktlinien analysieren und öffentlich machen; Whistleblower und Aussteiger prominent Raum geben; gezielt neuralgische Punkte der AfD-Programmatik in Agenda-Setting und Kampagnenplanung bespielen, um Vertreter in Talkrunden und auf Podien zu konfrontieren.
Diese Maßnahmen sind oft einfach durchzuführen – und wurden vielfach erprobt. Wirklich spektakuläre Erfolge blieben jedoch aus. Die AfD hat zahlreiche interne Krisen überstanden; selbst die Abspaltung des Gründerkreises um Bernd Lucke 2015 führte nur zu einer kurzen Delle in den Umfragewerten. Die Partei ist in den vergangenen Jahren professioneller geworden. Machtkämpfe entschärft sie häufig bereits, bevor sie publik werden.
Außerdem: Als rein reaktiver Ansatz bleibt die Strategie beim Abarbeiten an Symptomen stehen. Wer nur darauf setzt, interne Brüche zu betonen, setzt keine eigenen politischen Akzente und überlässt das Feld damit faktisch weiter dem Gegner.
7. Strategie der Gegenmobilisierung
Die Strategie der Gegenmobilisierung richtet sich nach innen: Sie will die Kräfte stärken, die in ihrer Ablehnung der AfD geeint sind.
Eine zentrale Taktik ist die Gegenmobilisierung in Form von Großdemonstrationen. Davon gab es in den vergangenen Jahren einige. Nach der Correctiv-Recherche Anfang 2024 gingen in Deutschland und Österreich mehr als drei Millionen Menschen auf die Straße.6 Auch im darauffolgenden Jahr folgten erneut Massenproteste. Unter dem Titel „Wir sind die Brandmauer“ zielten sie diesmal nicht nur gegen die AfD, sondern auch gegen die Union, nachdem sie im Bundestag mit Stimmen der FDP und AfD einen „Fünf-Punkte-Plan“ gegen Migration beschlossen hatte.7
Das Hauptproblem der Strategie der Gegenmobilisierung liegt in ihrer Begrenztheit: Sie mobilisiert vor allem jene, die ohnehin überzeugt sind, während sie jene, die mit der AfD sympathisieren oder schwanken, kaum erreicht. Zudem sind die Mobilisierungen oft kurzfristig; langfristig lassen sie sich kaum durchhalten. Die Hemmschwelle zur Teilnahme ist niedrig, die zur dauerhaften Bindung hoch.
Auch die Effektivität dieser Strategie ist zweifelhaft: So ging nach der ersten großen Protestwelle im Januar 2024 die Zustimmung zur AfD bis Mai um etwa sechs Prozentpunkte zurück, doch bei der Bundestagswahl gut ein Jahr später war dieser Effekt schon wieder verpufft.
8. Strategie der Tiefenintervention
Diese Strategie setzt nicht an den Symptomen, sondern an den Ursachen für das Erstarken der radikalen Rechten an. Sie geht von der Einsicht aus, dass die AfD nur dann substanziell geschwächt werden kann, wenn die Ursache für die Unzufriedenheit ihrer Wähler selbst bekämpft wird. Die AfD erscheint aus dieser Perspektive nicht als Auslöser, sondern als Symptom einer tieferliegenden Krise. Entsprechend versucht diese Strategie, die Krisen selbst zu bearbeiten.
Was allerdings genau diese Krisen sind, darüber gehen die Ansichten auseinander. Ist es die Krise des Kapitalismus? Oder die des Nationalstaats? Vielleicht ja auch eine Identitätskrise der „westlichen Welt“? Oder die Krise des Patriarchats, des Christentums, der Bildung, vielleicht auch der Automobilindustrie? Es könnte auch die Krise des Konservatismus sein. Die Antwort hängt davon ab, mit welcher theoretischen Brille man die Gegenwart liest.
Christlich-soziale Konservative wie Andreas Püttmann fordern mit Blick auf die Union eine stärkere Orientierung an Werten wie Humanismus, Sozialpolitik und Demokratie.8 Linke hingegen setzen auf eine antifaschistische Wirtschaftspolitik, wie es Isabella Weber und Lukas Scholle im Surplus-Magazin formuliert haben.9 Ziel ist es, zu verhindern, dass sich Menschen aufgrund hoher Inflation und niedriger Löhne in der Hoffnung auf eine radikale Änderung zur AfD wenden. Die Linke rund um Ines Schwerdtner weitet das Konzept aus und bezieht es nicht nur auf Preissprünge, sondern will auch öffentliche Infrastruktur wiederherstellen und mit einer progressiveren Steuerpolitik umverteilen.10
Ob diese Strategie Erfolg haben kann, lässt sich derzeit nicht sagen. Denn sie ist nicht nur langfristig angelegt und setzt einen langen Atem voraus, sondern es fehlen ihr bislang auch die Machtoptionen, um eine entsprechende Politik tatsächlich umzusetzen. Aber auch wenn weder eine Rechristianisierung noch eine neue Klassenpolitik kurzfristig AfD-Sympathisanten umdrehen werden, könnte hier langfristig der eigentliche Schlüssel liegen. Wenn es gelingt, den sozialen, kulturellen und politischen Krisen den Nährboden zu entziehen, könnte das rechte Projekt an Bedeutung verlieren. Das Risiko besteht darin, dass die Tiefenintervention manchmal den Blick auf aktuelle Bedrohungen verstellen kann. Kommt es zu einer akuten Lage, in der ein kluges taktisches Vorgehen notwendig ist, braucht es schnelle Antworten und keine Grundsatzdiskussionen.
Was bleibt von zwölf Jahren Gegenstrategie?
Die Bilanz der bisherigen Strategien im Umgang mit der AfD ist ernüchternd. Jede von ihnen birgt Risiken, keine hat die Partei dauerhaft geschwächt. Obwohl es an Ansatzpunkten nicht zu mangeln scheint, fehlt doch eine übergreifende Linie. Stattdessen erlebt man vor allem kopflosen Aktivismus, der von Taktik zu Taktik springt.
Die eine richtige Strategie gibt es nicht, da die Wahl der Strategie wesentlich von drei Fragestellungen abhängt, die je nach politischer Positionierung unterschiedlich beantwortet werden. Erstens die Lagebestimmung: Wie ernst ist die Situation tatsächlich? Stehen wir an der Schwelle zu einem Systembruch, oder handelt es sich vor allem um eine dauerhafte, aber nicht existenzgefährdende Verschiebung des Parteiensystems? Zweitens das Verhältnis von Abwehr und Offensive: Geht es primär darum, Erreichtes zu verteidigen, oder bietet die Lage die Chance, mit einer offensiven Politik neue Mehrheiten zu gewinnen? Drittens die Haltung zum Bestehenden: Was gilt es zu schützen, und wo muss das Bestehende transformiert werden, um künftige Erosionsprozesse zu verhindern?
Wer diese drei Fragen nicht beantwortet, wird weiter weitgehend kopflos reagieren: laut, hektisch, wirkungslos. Wer sie dagegen klärt, gewinnt die Möglichkeit, Taktik und Strategie produktiv zu verbinden: kurzfristiges Handeln mit langfristiger Orientierung.
Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Vollständige Ausgabe im Urtext, drei Teile in einem Band, Bonn 1980, S. 271.
Sebastian Friedrich / Nils Schniederjann: AfD: Verbieten bevor es zu spät ist? Panorama-Beitrag vom 05.10.2023.
Es gibt bereits aktuell einige Fälle betroffener Linker. So wurde etwa die linke Lehramtsstudentin Lisa Poettinger nicht für ihr Referendariat zugelassen.
Kristina Dunz / Eva Quadbeck: „Politisch links geneigt“: Kulturstaatsminister mahnt Änderungen bei ARD und ZDF an. Wolfram Weimer im Gespräch. In: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 01.10.2025.
Robert Bongen / Sebastian Friedrich: Angriff von rechts: Untergang der CDU? Panorama-Beitrag vom 24.09.2023.
Andreas Püttmann: Zwischen Christdemokratie und Rechtspopulismus. Wie die Merz-Union ideell schlingert und schrumpft. In: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 5/2025.
Isabella Weber / Lukas Scholle: Antifaschistische Wirtschaftspolitik ist dringender denn je. In: Surplus Magazin, 24.02.2025.
Ines Schwerdtner: Über die Chancen einer neuen linken Politik. In: Zeit 38/2025.



so wichtig!!
Gute Analyse. Ich hab vor einiger Zeit schon mal ähnliches versucht - inklusive einiger Ideen, wie es besser funktionieren könnte: https://ivoryletters.substack.com/p/eine-demokratische-querfront