30 Jahre mit rechten Verwandten
Warum ich aufgehört habe, sie an Weihnachten überzeugen zu wollen
Weihnachten gilt als das Fest der Liebe und Nähe, für viele ist es aber eher das Fest strapazierter Nerven. Denn was so besinnlich daherkommt, kann schnell ziemlich hitzig werden, wenn der Onkel wieder einmal meint, das Gespräch in trauter Familienrunde auf kriminelle Ausländer und die Scheißpolitiker lenken zu müssen.
Früher oder später rauschen beim Familienfest die unterschiedlichen politischen Welten zusammen. Um dem Abhilfe zu verschaffen, kursiert auch in diesem Jahr wieder ein eigenwilliges Textgenre: die Ratgeber darüber, wie man sich im politischen Weihnachtskonflikt richtig verhält.
Ich kenne solche Erlebnisse nur zu gut. Denn ich komme aus einer Familie, in der schon immer irgendjemand die AfD wählt. Besonders ein Familienmitglied, nennen wir ihn Jürgen, ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert – also schon in einer Zeit, bevor es die AfD überhaupt gab – beim Weihnachtsfest ein ebenso verlässlicher wie anstrengender politischer Gegenpart. Gegen die Ausländer, die Arbeitslosen, die Schwulen, oder allgemein „das Pack“ haut er seit jeher gern mal einen raus. Mal todernst, mal belustigt, immer menschenverachtend.
Als Kind konnte ich die rassistischen, homophoben und misogynen Sprüche kaum einordnen. Ich erinnere mich, dass ich manchmal mitlachte, auch wenn ich es nicht verstand. Meistens blieb ich aber einfach ruhig sitzen und schaute mit nervösem Blick in die Gesichter der anderen Familienmitglieder. Ich hoffte einfach, dass die Bombe, die Jürgen eben geworfen hat, gar nicht erst hochgehen würde, dass ihn einfach alle ignorierten.
Das änderte sich um die Jahrtausendwende. Als Teenager trug ich rot-grüne Haare und zerrissene Klamotten mit Antifa-Aufnähern. Ich war voller Ehrgeiz, jedem – auch denen, die es nicht hören wollten – meine Sicht auf die Welt kundzutun. Wer zur Bundeswehr ging, war für mich Militarist; wer CDU wählte, mindestens rechtsoffen; wer einen derben Witz machte, ein Hinterwäldler. Auch beim Weihnachtsessen folgte ich fortan der Strategie der offenen Konfrontation. Oft genügte ein Halbsatz oder ein einziges Wort, manchmal auch nur ein demonstratives Durchatmen oder Kopfschütteln von Jürgen, damit ich zur engagierten Gegenrede ansetzte. Einmal ging es etwa um die vermeintlichen Eigenheiten von Türken, Marokkanern und Italienern: Der Türke liege uns auf der Tasche, der Marokkaner raube uns gerne aus und der Italiener dusche ungern – weshalb er so viel Parfüm auftrage. Mein Einwurf, dass er das doch gar nicht wissen könne und sowieso ein Rassist sei, brachte keinen Erkenntnisgewinn.
Über Jahre hinweg war allen Anwesenden klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zwischen Jürgen und mir eskalierte. Andere Familienmitglieder hofften Jahr für Jahr bloß, dass es vielleicht diesmal erst nach der Bescherung so weit sein würde. Doch den Wunsch erfüllten ihr Jürgen und ich nicht.
Mit den Jahren war mir die reine Gegenrede über das reaktionäre Gerede von Jürgen zu wenig. Ich wollte überzeugen: Jürgen – und die anderen am Tisch. Ich munitionierte mich mit Fakten. Wie hoch ist der Arbeitslosenanteil unter Türken, wie hoch der unter Deutschen? Was sagen Kriminalitätsstatistiken zur Herkunft der Tatverdächtigen? Nur Statistiken zur Körperhygiene fand ich nicht.
Nach einiger Zeit hatte ich alles parat. Ich fühlte mich Jürgen überlegen: ich, der nach einigen Umwegen doch noch angefangen hatte zu studieren, der Einzige am Tisch, der eine Hochschule von innen gesehen hatte, gegen Jürgen, den gelernten Kfz-Mechaniker und Lkw-Fahrer. Meine Argumente schienen mir so viel besser als seine Ressentiments. Wahrscheinlich waren sie es objektiv auch. Doch ich drang kaum zu ihm durch. Am Ende überzeugte ich vor allem mich selbst davon, auf der richtigen Seite zu stehen: Ich war tolerant, progressiv, auf die Zukunft gerichtet, im Gegensatz zu den Ewiggestrigen, zu denen Jürgen ganz offensichtlich zählte.
Irgendwann fing ich wieder an, ihn zu ignorieren. Laut den Ratgebertexten ist das das schlimmste Vergehen. Man solle die rechte Verwandtschaft nicht bestärken, indem man ihre Ausfälle unwidersprochen stehen lasse. Überhören sei Mitwissen, Mittragen, fast schon Mitsagen. Aber mir ging es weniger um Nachsicht als um Rücksicht. Ich wollte die anderen am Familientisch nicht jedes Mal in unangenehme Situationen bringen – ich, der zwei bis drei Mal im Jahr wie ein Außerirdischer am Küchentisch landete und nach ein paar Tagen wieder auf seinen eigenen Planeten verschwand.
So ließ ich Jürgen also wieder reden: von den Ausländern, den Schwulen, dem Pack und vom kleinen Mann, den die Politik vergessen habe und mit dem er vor allem sich selbst meinte. Jürgen war in einem gewissen Sinne inzwischen wirklich ein kleiner Mann geworden. Denn nach jahrzehntelanger schwerer körperlicher Arbeit sackte sein Körper mehr und mehr in sich zusammen. 35 Jahre körperliche Arbeit rächten sich. In den Jahren, in denen ich vor allem darauf achtete, die richtigen Zahlen parat zu haben, verlor ich völlig den Blick dafür, wie er sich veränderte. Doch nun, als ich meinen Posten räumte, sah ich es: Zuerst verlor er seine Beweglichkeit, dann auch noch den Job und schließlich das Selbstbewusstsein. Mit um die 50 Jahren fand Jürgen noch einmal eine Anstellung bei einer Spedition. Doch nach einem weiteren Arbeitsunfall, bei dem er sich ein zweites Mal mehrere Knochen brach, musste er in Frührente.
Und so kam ein Weihnachtsfest, bei dem ich nach all dem Dagegenschreien, dem Dagegenargumentieren und dem taktischen Damitabfinden schließlich meine vierte Strategie entdeckte: das Verstehenwollen. Ich sah Jürgen nicht mehr als einen Gegner, dafür war er inzwischen viel zu schwach. Doch erst jetzt begann ich zu verstehen, dass der politische Austausch auch für ihn durchaus einem realen Interesse an seinem Gegenüber entsprang – und sei es nur das Interesse, jemanden zu finden, der ihm zuhörte. Sonst beriet er die Weltlage vor allem mit dem Nachrichtensprecher im Radio, während er frühstückte. Jede einzelne Politikmeldung kommentierte er mit einer Beleidigung in Richtung der Politiker; Beleidigungen, die aber außerhalb der eigenen vier Wände niemand hören konnte – nur seine Frau und ich, wenn ich auch mal am Frühstückstisch saß.
In diesen Jahren entstanden zum ersten Mal Gespräche statt bloßer Schlagabtausche. Kurz nach der Gründung der AfD sagte er mir, dass er die Partei gewählt habe. Mich hat das nicht überrascht, schließlich prahlte er gelegentlich damit, früher die Republikaner gewählt zu haben. Ich fragte nach, was er sich von der Partei erhoffe. Er habe die Partei gewählt, erklärte er, weil eine „Alternative“ ja zunächst einmal gut klinge. Sanft hakte ich nach: Ob er wisse, dass die AfD wirtschafts- und sozialpolitisch schlimmer sei als viele andere Parteien? Er wirkte kurz irritiert, verwies darauf, das Programm nicht zu kennen und lenkte das Gespräch rasch wieder auf das Thema Ausländerkriminalität.
Diese Gespräche ließen mich Mitte der 2010er Jahre nicht mehr los. Warum hatte jemand wie Jürgen so wenig zu sozialer Ungleichheit oder zum Gesundheitssystem zu sagen? Das müssten eigentlich seine Themen sein, wie ich damals dachte. Er hatte die Kehrseiten des freien Marktes, die Lücken im Gesundheitssystem am eigenen Leib erfahren.
Bei einem Weihnachtsfest fragte ich ihn einmal, wie er eigentlich seine eigene wirtschaftliche Lage einschätze. „Eigentlich ganz gut“, sagte er. Dabei wusste ich, dass seine Rente nach Jahrzehnten harter Arbeit nicht gerade üppig war. Aber wahrscheinlich wollte er weder vor mir noch vor anderen – und vielleicht auch nicht vor sich selbst – eingestehen, dass seine Antwort zumindest geschönt war. Und so sah ich ihn zunehmend nicht mehr als Ausgeburt des Reaktionären, als einen Gegner, den es im Kampf um eine bessere Zukunft zu besiegen galt, sondern wie so viele andere als Opfer einer Klassengesellschaft, in der der einzelne Mensch jenseits seiner zu verwertenden Arbeitskraft kaum zählt.
So wurde auch der Versuch, mit wohldosiertem Linkspopulismus auf seine rechten Sprüche zu reagieren, Teil meines Verstehenwollens. Als es wieder einmal um Flüchtlinge ging, die angeblich nur hierherkämen, um die Hand vor Vater Staat aufzuhalten, entspann sich eine Diskussion über Fluchtursachen, kulturelle Unterschiede und angeblich angeborene Andersartigkeiten. Irgendwann fragte ich ihn, ob er mehr mit einem Migranten im Niedriglohnsektor gemeinsam habe oder mit einem deutschen Aufsichtsratschef. Er wusste natürlich, worauf ich hinauswollte und wurde zurückhaltender. So sprach ich noch eine Weile über Profitorientierung und Konkurrenz, bis Jürgen meinte, das sei alles schön und gut. Im Prinzip hätte ich ja Recht und er lehne dieses System ja auch ab. Aber letztlich sei doch alles egal, weil die da oben uns ohnehin nur verarschen würden – egal ob Linke, Rechte oder Mitte.
Immer öfter fiel mir nun auf, dass Jürgen soziale und ökonomische Fragen keineswegs unwichtig waren. Von den Sozialdemokraten, sagte er einmal, halte er nicht viel. Seit Jahrzehnten wollten sie eine Vermögenssteuer einführen – gekommen sei sie bis heute nicht. Und auch bei der Erbschaftssteuer für Superreiche, mit gutem Willen eine Art Vermögenssteuer, gebe es so viele Ausnahmen, dass selbst milliardenschwere Erbschaften kaum belastet würden. Eine Vermögens- oder Millionärssteuer sei völlig utopisch. Die Reichen würden immer Wege finden, reich zu bleiben und noch reicher zu werden. Am Ende, sagte Jürgen oft, säßen sie immer am längeren Hebel. So unerquicklich ich viele seiner Positionen finde: an Realitätsverlust leidet er nicht. Er wünschte sich eine Politik in seinem Interesse und nicht für die Reichsten der Reichen. Allein, er hatte nicht den Hauch einer Hoffnung, dass sich daran etwas ändern ließe.
Nach mehr als einem Vierteljahrhundert regelmäßiger Auseinandersetzungen mit Jürgen vermute ich, dass es vor allem die Ohnmacht ist, die ihn politisch zu dem gemacht hat, was er ist. Das heißt nicht, dass er keine nationalistischen oder rassistischen Ideen teilt. Aber sind sie wirklich der Kern seiner Weltanschauung? Wie bei so vielen AfD-Wählern, mit denen ich über die Jahre gesprochen habe, scheint auch bei Jürgen abstrakt der Wunsch nach Gleichheit vorhanden zu sein. Aber er ist nicht mehr mobilisierbar. Selbst moderate linke Reformprojekte scheinen ihm völlig aussichtslos. Im Gegensatz dazu sind die rechten Elemente seines Alltagsverstands jederzeit aktivierbar.
Jürgen hatte jede Hoffnung auf eine Verbesserung der eigenen Lage verloren – daraufhin wechselte er in den Verteidigungsmodus. In die Verteidigung des mühsam Erreichten, das man sich nicht madig machen lassen will. Er fuhr die Ellbogen aus in einer Gesellschaft, die nicht nur sozialen Abstieg androht, sondern zugleich jede Aussicht auf Veränderung verweigert. Seine rassistischen Ausfälle waren kein bloßer Kulturkampf, sondern Ausdruck dieser Lage.
Irgendwann, es war vermutlich nach der Bundestagswahl 2021, erzählte mir Jürgen, dass er nicht mehr die AfD gewählt habe. Er sei ins Wahllokal gegangen, habe seinen Wahlschein vorgezeigt und den Stimmzettel daraufhin mit in die Kabine genommen. Doch als er dann den Stift in der Hand hatte, machte er kein Kreuzchen. Stattdessen habe er einen langen Strich von links unten nach rechts oben gezogen. Über den damit ungültigen Stimmzettel habe er noch geschrieben: „Alles Verbrecher!“ Immerhin.



Danke fürs Teilen deiner Erfahrung! Mir geht es sehr ähnlich mit meinen Verwandten... Ich finde die Formulierung "Verstehenwollen" Könnte mir in den nächsten Tagen helfen.
Die Erbschaftssteuer ist in der Schweiz ebenfalls nicht durchgekommen - extrem schade.
Danke für das Teilen, Sebastian.
Kommunikation ist immer gut.
Zugehörigkeit ist den Menschen sehr wichtig.
Frohes Fest und Danke für euren Subkanal...